Spieler in Abseitsposition zwischen Ball und TW - immer aktiv?

  • Ich kenne es so, dass ein Spieler, der sich in einer Abseitsposition befindet und sich klar in gerader Linie zwischen dem Ball und dem Torwart befindet (also dem Torwart zumindest teilweise die Sicht versperrt), immer zu einer Entscheidung auf Abseits führt.

    Da es heute beim ersten Tor der deutschen Frauen allerdings anders entschieden wurde, sind bei mir Zweifel aufgekommen.

    In den Regeln steht

    "einen Gegner beeinflusst, indem er

    • diesen daran hindert, den Ball zu spielen oder spielen zu können, indem er
    ihm eindeutig die Sicht versperrt,"


    D.h. es ist eigentlich zwingend zusätzlich erforderlich, dass der Torwart die Möglichkeit hatte, den Ball noch zu erreichen.


    Wie handhabt ihr solche Situationen? Immer Abseits oder "kommt drauf an"?

  • Wir reden hier von Profis.


    Wenn ich so ein Ding in 99% der Ligen pfeife, ist das kein Problem. Aber auf Top-Niveau würde ich bei der Szene tendenziell "in dubio pro reo" als Maßstab setzen, und die Deutschen sind mit einer vermeintlichen Abseitsposition nun mal "angeklagt"

    "Ich habe einmal die Alkoholiker aus der Mannschaft gegen die Antialkoholiker im Training spielen lassen. Die Alkoholiker gewannen 7:1, da habe ich gesagt: 'Mir ist es egal, sauftas weiter!' "

    - Max Merkel:trink:

  • Einfacher ist zunächst die Variante mit der Hinderung, den Ball spielen zu können. Grundsätzlich wird hier zwar der Körperkontakt als Voraussetzung angesehen (in einen Zweikampf gehen), aber m.E. reicht es durchaus, wenn hier ein Angreifer - grundsätzlich legal, weil er nicht aus dem Weg gehen muss - im kürzesten Laufweg steht und das zumindest einen Einfluss darauf hat, dass der Verteidiger den Ball nicht erreichen kann - wohlgemerkt kann, könnte reicht nicht.


    Die Sache mit der eindeutigen Sichtverhinderung ist so eine Sache: Kein SR, kein SRA und auch kein VAR hat eine Perspektive, wie der TW sie hat. Ergo muss immer gemutmaßt werden, ob die Sicht nun behindert wurde oder nicht, was an sich schon das krasse Gegenstück zur Voraussetzung "eindeutig" ist. Letztlich ist also, eindeutig hin oder her, dass immer eine Frage der Einschätzung von SR und SRA, ob da nun mutmaßlich die Sicht eindeutig behindert wurde. Hier kommt es dann zu einem Zielkonflikt: Einerseits geht es im Zweifel weiter, andererseits soll aber keine Fehlentscheidung getroffen werden - und schon gar keine, die potenziell spielentscheidend ist -, so dass es in der Regel doch zum Abpfiff kommen wird.

  • LucaSR: Warum denkst, du dass das in den unteren Ligen anders gehandhabt werden sollte als bei den Profis?


    Manfred: Wie ich es auch kannte, erwähnst du im kompletten 2. Absatz nicht den Aspekt, dass der Torwart zusätzlich den Ball noch erreichen können muss. D.h., du berücksichtigst das auch gar nicht dabei? Warum?

    Und bzgl. der Fehlentscheidung: Ein falsch gegebenes Abseits kann doch genauso spielentscheidend sein wie ein falsch gegebenes Tor.

  • Torwart zusätzlich den Ball noch erreichen können muss

    Darauf gehe ich nicht ein, weil der Regeltext das nicht verlangt - obgleich ich nicht leugne, dass ich davon ausgehe, dass der Regelgeber (wie ich auch) davon ausgeht, dass der Abstand zum Tor so groß ist, dass ein Eingriff des TW noch möglich wäre.

    Ein falsch gegebenes Abseits kann doch genauso spielentscheidend sein wie ein falsch gegebenes Tor.

    Bezüglich des spielentscheidenden Charakters sind wir auf einer Linie - aber wenn der Ball nicht im Tor war und der (nicht) im Abseits stehende Spieler nicht direkt hätte einschießen können, kräht nach einer Abseitspfiff zu viel nach Spielende kein Hahn mehr, während ein Abseitstor eben Auswirkungen hat.

  • Darauf gehe ich nicht ein, weil der Regeltext das nicht verlangt

    Aber der Regeltext verlangt das doch gerade:

    "einen Gegner beeinflusst, indem er

    • diesen daran hindert, den Ball zu spielen oder spielen zu können, indem er

    ihm eindeutig die Sicht versperrt,"


    Die Verhinderung der Möglichkeit, den Ball zu spielen, ist demnach ein entscheidendes Kriterium.


    Das ist ja gerade das, was mir auch nicht wirklich bewusst war und weshalb ich den Thread eröffnet habe. Ich habe die Vermutung, dass dieser Passus von vielen (mir auch) deutlich weiter ausgelegt wird als eigentlich vorgesehen.

    obgleich ich nicht leugne, dass ich davon ausgehe, dass der Regelgeber (wie ich auch) davon ausgeht, dass der Abstand zum Tor so groß ist, dass ein Eingriff des TW noch möglich wäre.

    Das ist sicherlich auch oft der Fall. Aber z.B. bei Standardsituationen mit Gewühl vor dem Tor ist es auch durchaus realistisch, dass z.B. aus 7m eindeutig unerreichbar ins Eck geschossen wird, während ein Mitspieler 2m vor dem Torwart steht und ihm die Sicht verdeckt. Dann wird die o.g. Bedingung sehr relevant.

  • Nr.23 Wir haben keinen Videobeweis. Das Tor hätte ohne Probleme gezählt, es wäre nicht einmal der Torhüterin aufgefallen.


    Die unterschiedliche Handhabung liegt also auf der Hand.

    "Ich habe einmal die Alkoholiker aus der Mannschaft gegen die Antialkoholiker im Training spielen lassen. Die Alkoholiker gewannen 7:1, da habe ich gesagt: 'Mir ist es egal, sauftas weiter!' "

    - Max Merkel:trink:

  • Nr.23

    Folgende Überlegung:
    Ist der Ball sehr nahe am Tor, macht die Sichtbehinderung nur Sinn, wenn der TW eingreifen kann - aber gerade nahe am Tor ist es eher die theoretische Option, dass der TW so weit weg ist, dass nicht er oder ein anderer Spieler, dem ja auch die Sicht versperrt werden kann, womit ein Eingriff vorläge, eingreifen könnte. Sollte dem im Einzelfall wirklich mal so sein, kommen wir aber wieder zu dem Punkt, dass man besser pfeift, weil "jeder" das Abseits gesehen hat und höchstwahrscheinlich auch kein Angreifer reklamieren wird.

    Ist der Ball weiter vom Tor entfernt, unterstelle ich im Zweifel, dass jemand hätte eingreifen können.

  • Die konkrete Szene gibt es hier ab 0:50. Und die Nummer 9 könnte ja noch etwas größer sein und der Ball etwas mehr in die Ecke fliegen, falls das noch nicht eindeutig genug ist. Meiner Ansicht nach ist das keine unübliche Situation. Wie hättet ihr denn hier entschieden?


    LucaSR: Ich verstehe dich so, dass man bei den Profis das Tor geben kann, weil sich nicht darüber beschwert wird. Und bei den Amateuren kann man dort Abseits pfeifen, weil es zu keinen Problemen führt und es keinen Videobeweis gibt. Ergibt für mich noch nicht so viel Sinn. Sollten wir nicht so oder so versuchen, richtig zu entscheiden?


    Bevor wir uns weiter im Kreis drehen: Gibt es noch Meinungen von anderen zu diesem Thema?

  • Nach Ansicht der Wiederholung hätte ich das Tor zurückgenommen.


    Die Regel sollte meiner Meinung nach sehr restriktiv ausgelegt werden, denn der SR kann ja kaum bewerten, was in der Situation mit freiem Sichtfeld passiert wäre.

    Wenn wir hier schon sagen, dass keine Reaktion mehr möglich wäre, können wir dann Spiele wie USA - Thailand nach der Halbzeit abpfeifen mit demselben Argument?

    Die Regel in ihrer Formulierung unterstellt meiner Ansicht nach auch, dass eine eindeutige Versperrung der Sicht notwendig den Gegner hindert - so dass der SR hier von Anfang an nur "objektive" Kriterien anwenden muss, nämlich ob da jemand vor der Linse steht.


    Ein Punkt, der für mich hier noch stärker wirkt: Die Angreiferin hat an der Stelle eigentlich gar nichts verloren.

    Ich finde es eine Unsitte, dass man sich bei Ecken ständig dicht vor dem Torwart platzieren muss, um diesen zu stören.

    Dann muss man sich halt über die Konsequenzen nicht beschweren.

  • Die Regel in ihrer Formulierung unterstellt meiner Ansicht nach auch, dass eine eindeutige Versperrung der Sicht notwendig den Gegner hindert - so dass der SR hier von Anfang an nur "objektive" Kriterien anwenden muss, nämlich ob da jemand vor der Linse steht.

    Gutes Argument, auf das ich bisher noch nicht gekommen war. So kann man zumindest die strenge Auslegung auch mit dem Regeltext rechtfertigen.

    Ob das wirklich so gedacht ist, bleibt für mich aber unklar. Eine "Im Zweifel für den Angreifer"-Auslegung, bei der man das nur abpfeift, wenn man sich recht sicher ist, dass der Torwart sonst noch hätte eingreifen können, wäre meiner Ansicht nach hier ebenso plausibel.

  • Hallo.


    Wobei die pure Anwesenheit nur ein Kriterium sein darf. Ich hatte in der Hintertoreinstellung nicht den Eindruck, dass die Anwesenheit der deutschen Spielerin sich gravierend auf den Bewegungsablauf der nigerianischen Torhüterin ausgewirkt hat. Was eben auch ein Aspekt in der Entscheidungsfindung ist.


    Daher kann ich die Entscheidung Tor nachvollziehen und teilen.


    Zu sehr am Wortlaut des Regeltextes zu sein kann auch am Sinn der Regel vorbei gehen.

    "Kondition ist nicht alles, aber ohne Kondition ist alles nix."
    Gerhard Theobald, ehemaliger Bundesliga-SR, zum Thema Grundlagen des Stellungsspieles

  • Zitat

    Ich hatte in der Hintertoreinstellung nicht den Eindruck, dass die Anwesenheit der deutschen Spielerin sich gravierend auf den Bewegungsablauf der nigerianischen Torhüterin ausgewirkt hat.

    Wie gewinnst du denn diesen Eindruck?

  • Nach Ansicht der Wiederholung hätte ich das Tor zurückgenommen.

    Nach Ansicht der Wiederholung habe ich keinen Zweifel, dass das Tor zählen muss.


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    "Jetzt wechselt Jamaika den Torhüter aus!"
    (Gerd Rubenbauer, als der FIFA-Beauftragte am Spielfeldrand eine Minute Nachspielzeit anzeigte)

  • Die Regel sollte objektiviert werden. Der VAR könnte eine virtuelle Linie vom Kopf des TH bis zum Ball ziehen. Wenn diese einen im Abseits stehenden Spieler nicht berührt, dann liegt keine eindeutige Versperrung der Sicht vor. ;)

  • smirk_mirkin : Weil die Torhüterin sich auf den Ball konzentriert, was aus der Körpersprache zu ersehen ist. Hätte sie die Deutsche nicht weg geschoben, hätte sie ggf. besser zur Abwehr platziert sein können bzw. wäre das Eingreifen der deutschen Spielerin strafbar geworden.

    "Kondition ist nicht alles, aber ohne Kondition ist alles nix."
    Gerhard Theobald, ehemaliger Bundesliga-SR, zum Thema Grundlagen des Stellungsspieles