Welchen Einfluss nimmt die Vorberichterstattung auf den Schiedsrichter

  • Die Aussage von Linus

    Zitat von Linus;129960


    Wiedermal bzgl. der Spielklasse eine neue Herausforderung, die natürlich mit Anspannung verbunden ist ;) Auch
    dieser Spielbericht eines SR-Kollegen beruhigt mich nicht, aber was soll's. Wird schon werden, und ist vermutlich lehrreich :top:


    eröffnet mir die Frage, welchen Einfluss Vorberichterstattungen auf den Schiedsrichter haben kann.
    Im Profibereich ist das ja Gang und Gebe, das Säbelrasseln zwischen den rivalisierenden Mannschaften gehört zum Tagesgeschäft.


    Aber wie sieht das im Amateurbereich aus ?
    Lasst ihr euch auf Aussagen von Kollegen, Presse, etc. beeinflussen, geht ihr mit einer
    entsprechenden Grundsympathie :ironie: oder eher gelassen in das Haifischbecken.
    Wie geht ihr mit der möglichen Nervosität um bzw. seit ihr so cool, über alle Dinge zu stehen.


    Mich interessieren die Erfahrungen der alten Hasen ebenso wie die unserer Frischlinge !

    "Der Schlüssel zum Erfolg ist Kameradschaft und der Wille, alles für den anderen zu geben."
    - Fritz Walter († 17. Juni 2002)

  • Da ich seit Februar 1992 das Amt des Schiedsrichters ausübe, sehe ich mich mittlerweile als erfahren an.


    Generell sollten Vorberichte keinen direkten Einfluß haben.


    Der Spruch, das Spiel fängt bei Null an und es spielt nur A gegen B, trifft meines Erachtens nur bedingt zu.


    Am morgigen Samstag habe ich als aktuelles Beispiel ein Spiel der Bremenliga (5.Liga) als SR zwischen dem FC Bremerhaven und dem TSV Wulsdorf (auch Bremerhaven) zu leiten. Da nur drei Teams aus Bremerhaven derzeit in der Bremenliga kicken und dies ein Ortsderby ist, weiss ich, dass hier wahrscheinlich mehr Zuschauer kommen werden und es de facto auch zu hektischen Spielphasen kommen könnte (bis hin zu Spielertrauben). Weil das Ergebnis eines Ortsderby die Leute eben doch etwas mehr interessiert.


    Hierauf werde ich morgen meine Assistenten innerhalb der Absprache auch besonders hinweisen.


    Freilich kann es durchaus sein, dass dieses Spiel fair und mit wenigen Verwarnungen über die Bühne geht.


    Diesen Sonntag leite ich ein Bezirkisligaderby SV Türkspor 2.- SV Lemwerder. Beide Teams kommen aus meinen Fußballkreis. Bei den beiden zurückliegenden Kreishallencupturnieren kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Teams. Hier leuchtet ein Licht bei mir: Erhöhte Audmerksamkeit am Sonntag, Nicklichkeiten müssen sofort im Keim erstickt werden. Nicht umsonst wurde hier sicherlich ein Verbands-SR angesetzt.


    Fazit:
    Wichtig ist, denke ich, dass man die vorab gesammelten Informationen aufnimmt und diese in seine Vorbereitung einbaut. Eine gute Vorbereitung ist meist die halbe Miete!


    Ebenso darf nicht außer acht gelassen werden, dass man nicht zuviel hineininterpretiert und womöglich überzieht.


    Wenn weniger passiert als man erwartete, umso besser... :top:

  • Wobei es oftmals gar keiner Vorberichterstattung bedarf, der Vereinsname und die Tabellensituation geben auch schon eine Menge Informationen preis. "Schwierige" Spiele sind da meist leicht zu erkennen (Berichte, Kampf um Auf- oder Abstieg, Mannschaften aus sozialen Brennpunkten etc.). Allerdings ist ein Spiel nicht schon deswegen leicht, weil keine offenkundigen Indizien vorliegen, im Gegenteil, gerade bei Spielen von Not gegen Elend um die "goldene Ananas" geht es manchmal schlimmer zur Sache.


    Wichtig sind die ersten Spielminuten: Man sollte immer versuchen, die Spielart einer Mannschaft zu erkennen. Können die mit Vorteil umgehen bzw. braucht jemand zur persönlichen Befriedigung den Freistoß? Gibt es da einen Meinungsführer? Wer betätigt sich als Aufpeitscher und wer beruhigt? Wie sind die Zuschauer drauf? Wer von den Spielern lässt sich von den Zuschauern beeinflussen? ...
    Wer die Charaktere erkannt hat und bedarfsgerecht im Rahmen der Regeln behandelt, wird sich immer leichter tun. Natürlich kann man immer Pech haben, dass Regelunkenntnis der Spieler oder auch ein eigener Fehler die Hexe ins Spiel bringt.


    Wirklich entscheidend scheint mir aber ein anderer Punkt zu sein:
    Nimm jedes Spiel ernst und halte die Zügel erst einmal straff, alles weitere wird sich im Spiel finden.

  • Ich finde, zu einer guten Spielvorbereitung gehört auch, sich mit solchen Themen und ggf. Artikeln zu befassen. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung, bzw. noch ein weiteres, wo ich dran beteilgt bin.


    Letzte Saison hatte ich ein Spiel, wo vorher in der Zeitung ein Spieler interviewt worden ist. U.a. wurde er gefragt, ob er Rachegelüste verspüre, da ihm im Hinspiel ein Bein gebrochen worden ist.
    Natürlich beeinflusst solch eine Berichterstattung meine Spielvorbereitung, gilt es doch, sämtliche Antennen auf Empfang zu stellen und die Spieler ggf. auch vor sich selbst zu schützen.


    Das andere Beispiel ist, wie bereits ausführlich berichtet, hatte ich in der Hinserie einen Spielabbruch mit Massenschlägerei auf dem Feld. Wer auch immer nun das Rückspiel zu leiten hat, wird sich sicherlich mit der Situation beschäftigen müssen, um optimal vorbereitet zu sein.

  • Ich sehe das ganz ähnlich, aber oftmals wird man während eines Spiels auch bitterböse überrascht.
    Eigenes Beispiel, Kreisklasse-Spiel, also unterst mögliche Liga: Es spielt der souveräne Tabellenführer gegen den abgeschlagenen Letzten, der zudem nur mit 10 Mann antreten kann. Die Vorzeichen waren eigentlich vollkommen klar, keine besonderen Vorkommnisse in der Vergangenheit, sollte eine eindeutige Sache werden.
    Ums kurz zu machen: Nachdem es mit einem 0:0 in die Halbzeit ging, wurde das eines der unangenehmsten Spiele, die ich jemals erlebt habe.


    Trotzdem bin ich jemand, der sich ziemlich genau auf die Spiele vorbereitet, also nicht nur die Tabelle anschaut, sondern ich lese mir auch gerne (soweit vorhanden) die letzten Spielzusammenfassungen auf den Homepages der Vereine an, was gibt es an aktuellen Berichten und ich schaue nach, ob sich zu früheren Begegnungen was finden lässt bzw. oftmals wird ja vor dem Spiel auch gerne auf der Homepage schon Dampf gemacht, wenn was sein sollte.
    Und natürlich kennt man sich hier im Kreis aus und weiß, welche Vereine sich gegenseitig die Hölle heiß machen werden und bei welchen man eher ein entspanntes Spiel erwarten kann.
    Grundsätzlich habe ich also schon meine Erwartungen und stelle mich auf bestimmte Situationen ein - oftmals trifft das auch so zu - aber letztendlich ist jedes Spiel für sich selbst zu betrachten, diesen Fehler hab ich leider schon ein paar Mal gemacht.


    Antwort auf die Frage: Ja, ich gehe mit einer bestimmten Grundhaltung in ein Spiel - was ich auch nicht verkehrt finde - aber ich muss lernen, in einigen Fällen etwas flexibler damit umzugehen und vor allem meine Linie ggf ein bisschen mehr an das anzupassen, was tatsächlich passiert.

    Nur noch fünf Sekunden, nur noch die wenigen Stufen zum Spielfeld hinunter, und dann bleibst du allein, inmitten Tausender von Menschen...


    Pierluigi Collina

  • Prinzipiell nehme ich interessiert Berichte von anderen SR über ihre Spiele zur Kenntnis. Für künftige Spiele der beteiligten Mannschaften, bei denen ich selbst amtiere, spielen diese Berichte für mich aber nur eine untergeordnete Rolle. Abgesehen von der Tagesform kommt es nämlich offensichtlich darauf an, welche Mannschaft auf welchen Gegner und welchen SR trifft. Bestimmt kennt Ihr auch die Fälle, in denen Euch SR-Kollegen vor einer Mannschaft gewarnt haben und als Ihr sie gepffiffen habt, gab es keine Probleme. Andererseits hatte ich auch schon beim Spiel 1. vs. 2. der Fairplay(!)-Tabelle zwei klare :rote_karte:.
    Zum von Linus angeführten Bericht möchte ich anmerken, dass sein
    SR-Kollege den Bericht nicht als SR, sondern als Trainer geschrieben hat, so dass der Bericht zwangsläufig nicht unparteiisch ist. Da seine Mannschaft punktlos Tabellenletzter ist, wird diese Tatsache wohl nicht an einem einzigen Spiel liegen. :p

    "Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit."
    (Marie von Ebner-Eschenbach, österreichische Schriftstellerin, *1830 +1916)


    "Mancher ist für die Wahrheit, solang die Wahrheit für ihn ist."
    (Charles Tschopp, schweizer Schriftsteller, *1899 +1982)

  • Ich denke, dass wichtige ist, vorbereitet, aber nicht vorverurteilend zu sein.


    Wenn es in den letzten 3 Spielen stress gab, werd ich die Zügel am Anfang etwas kürzer halten als bei anderen spielen. Wenn es aber keine Probleme gibt, werd ich das Spiel nach einer Zeit mehr laufen lassen.


    Was ich nicht mag: Kollegen auf bestimmte Spieler hinweisen (der tritt nach, der meckert, etc.) Das geht dann in die Richtung vorverurteilung. Jeder Spieler hat in jedem Spiel das recht darauf, bei 0 zu starten.

  • Zitat von flitzpiepe;130046

    Ich denke, dass wichtige ist, vorbereitet, aber nicht vorverurteilend zu sein.



    Sehr richtig. Die Kunst der Vorbereitung ist meines Erachtens, möglichst viel über die beteiligten Mannschaften und ihre Situation zu wissen und trotzdem ohne eine bestimmte Erwartung in das Spiel gehen zu können.


    Die Altvorderen haben uns beigebracht, man dürfe sich nicht um Tabellenstand und andere Tatsachen kümmern. Damit sollte verhindert werden, dass Vorurteile die Spielleitung bestimmen. Das mag einmal richtig gewesen sein, aber für den modernen Spielleiter ist es ein Muss, sich mit Informationen zu versorgen. Wir sagen ja immer zu Recht, dass das Schiedsrichteramt mehr ist als Tor und Einwurf zu pfeifen. Der Schiedsrichter soll Führungsaufgaben wahrnehmen und Dienstleister für ein faires Spiel sein (was nicht heißen soll, dass er keine entscheidende Position mehr hat).


    Eine solche Aufgabe kann man aber nur wahrnehmen, wenn man über die Beteiligten möglichst viel weiß. Tabellenstand, räumliche Entfernung der Mannschaften, vereinsinterne Probleme, Vorkommnisse in früheren Spielen, Spielweise und Taktik der Mannschaften, persönliche Fertigkeiten und Eigenschaften von Spielern - all das kann den Spielcharakter beeinflussen. Wie gesagt, die Kunst besteht darin, das Wissen zu bewahren und trotzdem offen zu bleiben.


    Natürlich gilt dies nicht für jedes Spiel. In den unteren Klassen muss man sich sicher nicht so intensiv mit der Spielweise der Mannschaften beschäftigen. Doch je höher man kommt, desto wichtiger wird das "Zusatzwissen". Nicht zuletzt bedeutet im Lizenzbereich Professionalisierung u. a. auch die ständige Beschäftigung mit dem Geschehen in den Lizenzligen. Und auch die FIFA-WM-Schiedsrichter werden ja zurzeit in der Vorbereitung mit Videoaufzeichnungen der Spiele aller WM-Teilnehmer "gefüttert". Deutliches Zeichen dafür, wie wichtig eine akkurate Vorbereitung ist.

    "Weißt du, Fußball ist das Einfachste, das es gibt. Wenn nur nicht das ganze Drumherum wäre." (Sebastian Deisler)

  • Zitat von schirifan;130073

    ...Die Kunst der Vorbereitung ist meines Erachtens, möglichst viel über die beteiligten Mannschaften und ihre Situation zu wissen und trotzdem ohne eine bestimmte Erwartung in das Spiel gehen zu können......Der Schiedsrichter soll Führungsaufgaben wahrnehmen und Dienstleister für ein faires Spiel sein (was nicht heißen soll, dass er keine entscheidende Position mehr hat).


    Eine solche Aufgabe kann man aber nur wahrnehmen, wenn man über die Beteiligten möglichst viel weiß. Tabellenstand, räumliche Entfernung der Mannschaften, vereinsinterne Probleme, Vorkommnisse in früheren Spielen, Spielweise und Taktik der Mannschaften, persönliche Fertigkeiten und Eigenschaften von Spielern - all das kann den Spielcharakter beeinflussen. Wie gesagt, die Kunst besteht darin, das Wissen zu bewahren und trotzdem offen zu bleiben.....



    Für mich der springende Punkt: Wenn ich weiß, was los ist und in welcher Konstellation ich mich befinde, wirke ich souverän und werde akzeptiert. In meinem Kreis habe ich keine Akzeptanzprobleme- ich bin hier zu Hause.


    Wenn ich Morgen FC Teutonia Hessisch Dorfstadt 3 gegen Borussia 32 Hessisch Stadtdorf 2 in der 4. Kreisklasse pfeifen soll, hätte ich rein sportlich kein Problem damit. Aber die mangelnde "Ortskenntnis" würde unbewusst auf meine Ausstrahlung wirken- und zack wäre ich ein anderer SR.


    Um es provokant zu sagen: Lasst mich lieber Bundesliga pfeifen- da weiß ich besser über die Rahmenbedingungen bescheid als in Hessen :D :D :D