FaD, oder Fingerspitzengefühl?

  • Ich hatte am WE ein Spiel, wo ich Gnade vor Recht walten ließ. Und keiner hat sich danach bei mir beschwert. Aber regeltechnisch hätte das anders ausgehen müssen…


    An und für sich war das Spiel sehr fair. Aber auch in fairen Spielen gibt es Momente, wo der eine oder andere mal mehr als 100% gibt. Daher musste es so kommen: Ein Zuspiel und der Gegenspieler ging mit mehr Vehemenz in den Zweikampf, um den erfolgreichen Pass zu verhindern. Statt den Ball hat er dann den Fuß getroffen - etwas stärker aber noch ohne den Gegenspieler zu verletzen. Für mich klar: Gelb. Den betroffenen Spieler hat das Foulspiel nicht gefallen, dass der Gegenspieler mit etwas „Schmackes“ in den Zweikampf ging und das quasi aus dem Nichts passiert ist. Ok, wenn es dumm gelaufen wäre hätte was passieren können - aber verletzt wurde niemand. Dem foulenden Spieler hat er dann seine Entrüstung zu Gute kommen lassen und gesagt: „sag mal bist du behindert, oder was?“. Die Gemüter haben sich dann relativ schnell beruhigt, aber der Kapitän der gegnerischen Mannschaft kam dann auf mich zu und meinte, ob ich das auch gehört hätte. Was ging in diesem Moment durch meinen Kopf: „ dieses Foul in dieser Vehemenz hätte an dieser Stelle auch nicht sein müssen. Verständlich, dass man sich da aufregt“. Aber für den kommunikativen Affekt, in der Holzklasse, eben FaD zu geben, dazu konnte ich mich nicht durchringen. Ich hab dann dem gefoulten Spieler die gelbe Karte wegen Unsportlichkeit gegeben.


    Im Nachgang frage ich mich, weil wir nicht gerade in der Bundesliga unterwegs sind, ob es richtig ist, in solchen Situationen Verständnis für die Spieler zu haben, denen zuerst unrecht getan wird und deren Reaktion noch in einem tolerablen Bereich sind?

  • Hi Berni,

    spannende Situation, danke fürs Teilen!

    Ich finde, genau solche Szenen zeigen, dass Fingerspitzengefühl im Amateurbereich oft wichtiger ist als das starre Durchziehen aller Eskalationsstufen. Rein regeltechnisch wäre der Vorwurf "bist du behindert§ natürlich eine Beleidigung und damit FaD. Aber ich kann absolut nachvollziehen, dass du es in dem Kontext – hitziger Zweikampf, keine Verletzung, spontane Emotion – bei Gelb belassen hast.

    Ich denke, das Entscheidende ist, ob du das Gefühl hattest, dass du mit dieser Lösung die Situation befrieden konntest. Und so klingt es ja: keiner hat weiter rumgemault, der Kapitän kam sachlich zu dir, die Spieler haben sich beruhigt.

    Aus meiner Sicht ist es im unteren Bereich oft besser, solche emotionalen Ausrutscher – wenn sie nicht völlig entgleisen – mit Gelb abzumoderieren, statt das Spiel durch einen Platzverweis komplett eskalieren zu lassen. Man muss immer abwägen, ob man dem Spiel einen Gefallen tut, wenn man streng auf den Regeltext pocht.

    Von daher: Ich finde, das war völlig okay so. Wichtig ist, dass du es transparent kommunizierst (was du ja gemacht hast) und konsequent bleibst, wenn es später wieder vorkommt oder in üblerem Ton weitergeht.

    Grüße, Micko

  • berni1 klingt als hättest du die Situation pragmatisch und zur Zufriedenheit aller gelöst; wäre da auch geneigt hier keinen FAD zu geben...

  • Moralisch bin ich voll bei Dir.

    Das war ein emotionaler Ausrutscher und ist im Affekt passiert.


    Sollten wir das bestrafen?

    Aus morlaischer Sicht vielleicht nicht.

    Aber ein Schiedsrichter hat die Aufgabe die Regeln umzusetzen.

    Und da steht nunmal "wer beleiditgt geht" und nicht "wer beleidigt geht, außer er handelt im Affekt".


    Die Gnade, die Du hier hast walten lassen, musst Du nämlich auch von der anderen Seite betrachten.

    Die Regeln sollen einen Spieler davor schützen, mit einem Gegner auf dem Platz zu stehen, von dem man beleidigt wurde.

    Darauf, dass das auch passiert, hat der Beleidigte einen regeltechnischen Anspruch darauf mit dem Beleidiger nicht mehr zusammenspielen zu müssen, dem der Schiedsrichter Geltung zu verschaffen hat.

    Wenn Du dann bei einer Beleidigung nur Gelb gibst, dann läufst Du dem Schutzzweck der Regel zuwider.

    Und wenn dann im nächsten Spiel einer wegen einer ähnlichen Beleidigung fliegt, ist dann das erste Argument "Ja, aber der Schiri von letzter Woche..."

    Die Entscheidung, ob die Regel so richtig oder falsch, gut oder schlecht, ist, obliegt nicht dem Schiedsrichter. Wenn man damit anfangt, dann braucht man gar keine Regeln mehr.


    Soviel zum rein regeltechnischen, jetzt aber zum wahrnehmungstechnischen:

    War es denn wirklich eine Beleidigung? Für mich war das weniger eine Berleidigung vielmehr eine offene Frage ohne Wertung, aber durchaus mit einem aggresiven Subtext, womit man dann Gelb noch auf der Wahrnehmungsebene rechtfertigen könnte? Oder vielleicht einfach nur ein etwas überdeutlcihes "tja, das war jetzt irgendwie nicht so gut".

    Bei "Du bist doch behindert" sehe ich da aber keine "Rettung" mehr.

  • Ich denke dass sich SR zu viel auf sogenanntes "Fingerspitzengefühl" einlassen.

    Wer auf den Platz geht, unterwirft sich den Regeln, und die setzt der SR um!

    Wenn ich sehe (im Fernsehen und als Zuschauer auf Plätzen, denn aktiv bin ich gesundheitlich raus) was so alles geduldet wird und auch von Kommentatoren von sich gegeben (dieses Foul reicht nicht für einen Strafstoß) dann wundert mich an dem Umgang auf dem Platz nichts mehr.

  • Ich habe es an anderer Stelle schon öfters geschrieben: bei möglichen Beleidigungen bin ich immer sehr vorsichtig mit dem "Fingerspitzengefühl".

    Denn wir wissen nicht, wie es der "Beleidigte" auffasst. Und daher tut man meiner Meinung nach gut daran, gerade bei dieser Thematik eher zum FaD zu greifen als es nur mit einer VW zu ahnden. Natürlich geht der "Beleidigung" im beschriebenen Fall ein entsprechendes Vergehen voraus, was aber auf dem Feld nicht zu einer Abwertung des Vergehens des Gefoulten führen darf. Das spielt dann in der Entscheidungsfindung der Spruchkammer eine Rolle. Daher wird bei uns im Formblatt für Sonderberichte unter anderem gefragt "Wurde der fehlbare Spieler vorher provoziert oder gefoult?".

  • Vorab:
    Fingerspitzengefühl habe ich immer ganz viel - wenn ich die Karte zeige ... in allen anderen Fällen ist das Fehlanzeige.


    Regeltechnisch war das falsch, Moral und Regeln passen ohnehin nicht zusammen. Gleichwohl gäbe es vielleicht eine Lösung, die natürlich auch nicht ganz sauber ist, aber eine Verwarnung kann man womöglich verkaufen, wenn man sie mit dem Kommentar versieht, dass man dass nicht ganz genau verstanden hat, was wohl auch ganz gut wäre (und nein, das ist keine Regelbeugung, man darf halt nur nicht darauf antworten, was man nun genau verstanden hat, beispielsweise wäre ein "behindert" noch interpretationsfähig, auf wen oder was sich das bezieht, mit viel Hühneraugen zudrücken wäre da die Gelbe nochvertretbar) - und in der Regel werden beide Spieler die Gelbe gerne akzeptieren. Aber: Das geht, wenn überhaupt, in einem Freundschaftsspiel.

  • Ich habe mit Gelb auch so meine Bauchschmerzen. Damit signalisiere ich "Ich habe gehört, was der Spieler gesagt hat, will aber nicht Rot ziehen." Ich bin ja auch eher von der Fraktion "Gnade vor Recht", wenn es sich anbietet, und hätte mich wahrscheinlich auch darauf zurückgezogen, den Wortlaut nicht ganz genau verstanden zu haben. Das kann ich dann auch regelkonform verkaufen, wenn doch der Kapitän angewackelt kommt und nachfragt. Dann kann ich ihm sagen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich da eine Beleidigung gehört habe, oder doch nur eine Frage, die etwas laut und unfreundlich war, weil dem betroffenen Spieler gerade jemand mit Schmackes in die Knochen gerutscht ist. Wenn die alle nur zum Fußball spielen gekommen sind, ist die Sache damit erledigt, wenn der Kapitän auf Beleidigung besteht, verspreche ich ihm, in Zukunft besser aufzupassen, und weiß, dass ich anschließend die ganz kurze Leine rausholen muss.

    Der Klügere gibt nach.


    Das erklärt, warum die Welt von den Dummen regiert wird.

  • Vor Jahren, als ein Verbandslehrwart einen Vortrag hielt, gab er uns sinngemäß zu verstehen, dass der Schiedsrichter unmittelbar nach derartigen Situationen nicht zwingend genau hinhören muss, was der gefoulte gerade als Schmerzensschrei exakt formuliert. Und solange eine gewisse Grenze nicht überschritten wird, ist das auch gut so.

  • mir wurde vor kurzem von einem Beobachter, der auch SR in dee Promotion League (3. Höchste Liga in der Schweiz) gesagt, dass ich zu Streng auf dem Platz sei, da ich solche Aktionen mit rot geahndet habe. Erklärt hatte er es mir damit, dass man als SR als "Manager" fungieren sollte und nicht als "Punisher". Natürlich gibt es irgendwo eine rote Linie, wo wir es schlichtweg nicht mehr tolerieren können. Diese setzt sich zusammen aus Kontext, Wortwahl und Ton. Für mich ist diese Linie im Kontext und in der Wahl der Worte bei weitem nicht gegeben. Daher denke ich, dass eine Verwarnung hier völlig ausreichend ist.

  • Ich hab ohnehin das Gefühl, je höher SR pfeifen, desto weniger beachten sie Regeln.

  • Ich hatte in meinem ersten Jahr eine vergleichbare Szene. Natürlich stand dann gleich jemand draußen unter den Zuschauern, der das gleich dem Lehrwart unserer Schiedsrichtergruppe gesteckt hat. In der Zeit hatte mir auch ein erfahrener Kollege was zu mir gesagt, was ich seitdem nicht vergesse und mir in solchen Szenen ins Gedächtnis zurückhole. "Gutmütigkeit dankt dir keiner auf dem Fußballplatz. Der kommt nach dem Spiel nicht zu dir und bedankt sich, dass er nur gelb bekommen hat"


    Was mir aber in den letzten Jahren allgemein und auch unabhängig vom Fußball wieder auffällt ist, dass solche Wörter wie "behindert" oder auch "krank/geisteskrank" (als Synonym von verrückt oder auch als Ausdruck wenn jemand was toll findet) gefühlt wieder mehr in die Alltagssprache der jungen Leute zurückkommen und damit natürlich auch auf den Fußballplatz. Ich fand sowas ja schon immer schwierig, aber es kann schon sein, dass den Leuten in dem Moment gar nicht bewusst ist, dass das beleidigend rüberkommt. Das darf aber auch keine Ausrede sein, dass nicht zu ahnden.

  • dass solche Wörter wie "behindert" oder auch "krank/geisteskrank" (als Synonym von verrückt oder auch als Ausdruck wenn jemand was toll findet) gefühlt wieder mehr in die Alltagssprache der jungen Leute zurückkommen und damit natürlich auch auf den Fußballplatz.

    Genau darauf wollte ich hinaus mit der Frage, ob das wirklich eine Beleidigung war oder nur eine offene Frage.


    "Sag mal, bist du behindert?" ist in der Jugendsprache mittlerweile eher ein (wenn auch aggressives) Synonym für "Sag mal, geht's noch?", "Was hast Du Dir dabei gedacht?", "Ich glaub es hackt!" oder einfach nur "Spinnst Du, so in den Gegner reinzufliegen, das ist gefährlich und als angeflogener gefällt mir das ja sowas von gar nicht?".

    Den Umstand, dass sich Sprache und der Sprachgebrauch aktiv verändert und auch über Generationen hinweg voneinander abweicht, darf man nämlich auch nicht vergessen.

  • Mann muss ja nicht jede Wendung mitmachen.

    "Behindert" gegenüber einem anderen als Attribut zu verwenden ist im allgemeinen Sprachgebrauch herabsetzend.

  • solche Wörter wie "behindert" oder auch "krank/geisteskrank" (als Synonym von verrückt oder auch als Ausdruck wenn jemand was toll findet) gefühlt wieder mehr in die Alltagssprache der jungen Leute zurückkommen und damit natürlich auch auf den Fußballplatz.

    Also ich sehe das hier auch wie Paulelmar

    Bei dem „behindert“, egal ob das jetzt „alltagstauglich“ auszusprechen ist, gibt es meiner Meinung nach nur den FaD. Das ist eine klare (bei diesem Wort finde ich klar!) Beleidigung und hat nichts auf dem Fußballfeld zu suchen.

    Ich kann das natürlich verstehen wie ihr denkt - und es stimmt ja auch, dass die Sprache sich verändert im Jugendbereich- aber man muss trotzdem schauen das man regeltechnisch , aufgrund dessen nicht abweicht.

    Aber genau dafür ist ja dieses Forum da um 1. solche Situation zur Debatte zu stellen und 2. Regeltechnisch fit zu bleiben!

  • Man muss aber auch differenzieren zwischen nicht unberechtigtem emotionalem Ausbruch und wirklicher Beleidigung.

    Im konkret geschilderten Fall bin ich tatsächlich weniger bei einer Beleidigung und würde eine klare Ansage sich zu mäßigen als ausreichend erachten.


    Beleidigungen sind immer kontextbezogen. Auch die nettesten Worte können beleidigend sein, wie im folgenden Beispiel:

  • Also ich sehe das hier auch wie Paulelmar

    Bei dem „behindert“, egal ob das jetzt „alltagstauglich“ auszusprechen ist, gibt es meiner Meinung nach nur den FaD. Das ist eine klare (bei diesem Wort finde ich klar!) Beleidigung und hat nichts auf dem Fußballfeld zu suchen.

    Ich kann das natürlich verstehen wie ihr denkt - und es stimmt ja auch, dass die Sprache sich verändert im Jugendbereich- aber man muss trotzdem schauen das man regeltechnisch , aufgrund dessen nicht abweicht.

    Aber genau dafür ist ja dieses Forum da um 1. solche Situation zur Debatte zu stellen und 2. Regeltechnisch fit zu bleiben!

    Wobei ich ja selbst auch in so einem Fall in den allermeisten Fällen den FaD geben würde. Deswegen auch noch die letzten zwei Sätze, die im Zitat leider weggelassen worden sind.