Du bist neu, voller Tatendrang und Idealismus - das ist schön und soll auch so bleiben. Da Du auch noch gründlich bist, hast Du Dich vorbereitet, bist die Regeln noch einmal durchgegangen, hast Deine Ausrüstung gecheckt, kennst den Tabellenstand und eventuelle weitere Dinge, die Du wissen solltest, sogar um die Anreise hast Du Dich gekümmert - und als Perfektionist kennst Du auch die Wettervorhersage. Prima, da kann doch nichts mehr schiefgehen - leider weit gefehlt …
In einem anderen Thema kam es zu dieser Aussage, die mich zu diesem Beitrag inspiriert hat:
Solange eine Regel nicht eindeutig ist und einen gewissen Interpretationsraum offen lässt, sollte man gemäß der allgemeinen Erwartungshaltung entscheiden.
Lassen wir mal offen, ob und wann Regeln nicht eindeutig sind. Auch die Frage, ob, wann und wobei ein Interpretationsspielraum besteht, soll uns erst einmal nicht ablenken. Spannend ist die "allgemeine Erwartungshaltung" …
Also, was wird von Dir als SR erwartet? Klar, da sind die Dinge wie pünktliches Erscheinen, vorbildliches und höfliches Verhalten und eine Spielleitung, welche gleichermaßen den Regeln wie dem Spielcharakter gerecht wird. Hoppala, merkst Du, dass ich Dir eben einen untergeschoben habe. Natürlich sollen wir uns am Spielcharakter orientieren, es gibt Spiele(r), die können richtig gut mit dem Vorteil umgehen, ergo lassen wir den nach Möglichkeit laufen. Weiterhin gibt es Spiele(r), in denen eine Ansage reicht, während in anderen Fällen ohne Karte keine Einsicht zu erwarten ist (und selbst dann nicht). Aber: Sind das alle Erwartungen?
Nachvollziehbar ist schon mal, dass man von uns erwartet, an drei Orten gleichzeitig zu sein, wenigstens dann, wenn wir alleine pfeifen - auf zwei Abseitslinien und in Spielnähe. Ebenso eindeutig ist, dass wir dieser Erwartung nicht entsprechen können und werden - immerhin realisieren die meisten Beteiligten auf und um das Feld, dass wir das nicht leisten können.
Schwieriger werden dann schon spezifische Erwartungen:
In Freundschaftsspielen sollen wir ohne Karten, zumindest aber ohne Rote Karten auskommen, schließlich sind das ja "Testspiele" und die Spieler sollen nächstes Wochenende in der Meisterschaft ja wieder verfügbar sein. Dummerweise unterscheidet der Regelgeber aber nicht zwischen den einzelnen Spielarten, eine Notbremse bleibt eine Notbremse, solltest Du dann auf eine Karte verzichten, machst Du Dich zum Schiedsrichter von letzter Woche und verhältst Dich extrem unsolidarisch, zeigst Du sie, hast Du gegen die Erwartungen verstoßen und kannst mit Anfeindungen rechnen, weil man das doch in einem Freundschaftsspiel nicht macht. Du hast also die Wahl zwischen Pest und Cholera …
Die größten Probleme resultieren aber aus der Regelhalbkenntnis auf und um den Platz. Man erwartet eine bestimmte Entscheidung, die aber eben nicht unbedingt mit der Regellage übereinstimmen muss. Ein Beispiel: Angreifer A wird von Verteidiger B bedrängt und regelwidrig gehalten, bleibt aber in Ballbesitz und marschiert weiter in Richtung Tor (er ist ca. 25 Meter vom Tor entfernt). Bis hierhin ein klassischer Fall von Vorteil, das lassen wir laufen. Nun will sich der Angreifer aber befreien und nutzt dabei, unterstellen wir mal ein Versehen und keine Absicht, seinen Ellenbogen. In diesem Moment wissen wir als SR, dass es sich ausgevorteilt hat und wir eingreifen müssen. Die korrekte Entscheidung kann dabei nur direkter Freistoß für A bei Verwarnung für B (wegen Verhinderung eines aussichtsreichen Angriffs) sowie für den Ellenbogenschlag eine Verwarnung für A sein. Jetzt rate aber mal, wie die Erwartungshaltung ist: A wird mit dem Freistoß einverstanden sein, die Verwarnung aber nicht akzeptieren, weil er doch die ganze Zeit gehalten wurde. B wiederum kann nicht nachvollziehen, warum A den Freistoß bekommt, schließlich hat der ihm doch mit dem Ellenbogen eine verpasst. Beide verbindet nun aber, dass Deine Entscheidung, beiden die Gelbe Karte zu zeigen, ja nun so etwas von falsch sein muss - und damit befinden sie sich in bester Übereinstimmung mit allen anderen Spielern, Trainern und Zuschauern, weil eine derartige Regelkenntnis im Detail (der Ellenbogenschlag ist unterdessen eine Pflichtverwarnung) einfach nicht vorhanden ist. Du merkst, wie viele Erwartungen Du gerade enttäuscht hast - obwohl Du regeltechnisch vollkommen korrekt agiert hast? Ähnlich verhält es sich in allen Situationen, die vergleichbares Konfliktpotenzial haben, angefangen von Regelverstößen bei Strafstößen bis hin zum Wechselfehler, weil der Spieler in aller Gemütlichkeit den längst möglichen Weg vom Feld wählt.
Daher:
Sei Dir darüber klar, dass Du immer jede Menge Erwartungen enttäuschen wirst und äußerst selten die Gelegenheit hast, klarzustellen, dass Du vollkommen richtig gehandelt hast. Enttäuschte Erwartungen wiederum wird man Dir als Kritik vorwerfen - und dabei habe ich noch gar nicht über die Fälle geredet, in denen Deine Entscheidung tatsächlich falsch war (und falsche Entscheidungen passieren auch altgedienten SR in jedem Spiel, meist merkt es aber zum Glück nur der SR selbst).