Ein zweiter Brief an die Zuschauer

  • Liebe Zuschauer,


    sie erinnern sich noch an Ihre eigene Schulzeit? War Ihnen nicht bei mancher Klassenarbeit nicht klar, warum der Lehrer Ihre Lösung als falsch gewertet hatte oder wie Ihre Note sich denn nun begründete. Und wenn nicht, so haben Sie doch bestimmt auch schon gelesen und gehört, dass bei Versuchen selbst in vermeintlich eindeutigen Fächern wie Mathematik ein und dieselber Arbeit von unterschiedlichen Lehrern mit Noten zwischen 1 und 6 bewertet wurde. Sicher fragen Sie sich jetzt, was das mit einem Fußballspiel zu tun hat - ich versichere Ihnen, dass das eine ganze Menge ist.


    Jeder Akteur auf dem Fußballplatz, gleich ob Schiri, Spieler, Trainer oder Zuschauer, hat einen ganz individuellen Standpunkt auf dem Platz und damit seine eigene Perspektive. Und so unglaubwürdig es klingen mag, dieselbe Spielsituation stellt sich aus jeder Perspektive anders dar. Im Regelfall werden alle Beteiligten aus der unterschiedlichen Darstellung zum selben Ergebnis kommen, aber schon ein anderer Winkel kann zu einer ganz anderen Beurteilung führen. Es gibt Lehrvideos, die selbst gestandene Schiedsrichter verblüffen: Da wird dieselbe Szene aus 3 verschiedenen Perspektiven gezeigt und aus dem nicht strafbaren Handspiel, da der Ball aus kurzer Entfernung gegen den normal gehaltenen Arm geschossen wurde, wird in einer anderen Perspektive ein klar absichtliches Handspiel mit mindestens einer Gelben Karte. Das Problem ist nur, dass alle Beurteilungen aus ihrer jeweiligen Perspektive richtig sind.


    Wir sollten uns daher also immer darüber klar sein, dass es bei der Beurteilung derselben Spielsituation womöglich mehr als eine richtige Entscheidung geben kann, da jede Situation sich aus einer unterschiedlichen Perspektive auch anders darstellen kann. Wie sehr dies zutrifft sehen Sie selbst in der Fernsehberichterstattung über die Bundesliga: Im einen Kanal steht der Spieler im Abseits, im anderen Kanal nicht, je nachdem wann die "Linie" gezogen wird, wobei hier manchmal schon Bruchteile von Sekunden oder eine geringfügig andere Kameraperspektive einen gewaltigen Unterschied machen (können).


    Auf dem Sportplatz zu Hause wird die Sache noch schwieriger, da die weitaus meisten Spiele von einem Schiedsrichter alleine zu pfeifen sind - und die Spieler sind nicht durchsichtig, d.h. der Schiedsrichter kann Dinge nicht sehen, bei denen ihm ein Spielerkörper die Sicht verdeckt, die Sie aber klar und eindeutig erkennen können. Selbst wenn der Schiedsrichter mit Assistenten pfeift, so sind dennoch nur Menschen am Werk, die auch Fehler machen können oder - und jetzt kommen wir wieder an den Ausgangspunkt zurück - eben eine andere Perspektive als Sie haben.


    Seien Sie sicher, dass jeder Schiedsrichter das ihm mögliche tun wird, um alle Situationen - eben aus seiner Perspektive - korrekt und einheitlich zu bewerten. Er wird dabei eben des Öfteren zu abweichenden Ergebnissen zu Ihrer Wahrnehmung kommen, wobei es meist schwierig sein wird festzulegen, ob nun der Schiedsrichter oder Sie die "richtige" Wahrheit bewerten. Von daher: Seien Sie sich bitte bewusst, dass es manchmal eben "die Wahrheit" nicht gibt und eine abweichende Entscheidung des Schiedsrichters weder Unfähigkeit, Unwillen o.ä. sind, sondern einfach einer anderen Perspektive entspringen. Empörte Rufe usw. bringen da wenig und Sie würden doch auch nicht wollen, dass der Schiri auf Zuruf reagiert - oder?


    In diesem Sinne lassen Sie uns miteinander ein schönes und hoffentlich faires Fußballspiel genießen.


    Ihr Schiedsrichter

  • Guter Text, doch wer nimmt sich als Zuschauer die Zeit zum Lesen?

  • Ein super Text! Und mir fällt da etwas ein, wie man damit etwas anfangen kann, ein Versuch kann nicht schaden....
    Darf ich das etwas öffentlicher machen, mit kompletter Authorangabe?

  • Sorry; für die Testosteron-aufgeladenen Zuschauer in der Kreisklasse mit Restalkohol-Intellekt nicht zu gebrauchen.


    Schöner Text mit richtigen Aussagen. Aber leider nur fürs Poesie-Album.

  • @ BRiT
    Das ist mir auch klar, aber wenn nur einer von hundert Zuschauern das versteht und beherzigt, wäre das Ziel schon erreicht.


    @BorsigSR
    Nimm doch einfach das PDF-Format, welches ich hier anhänge.


    gebi
    Das ist mir auch klar, siehe auch BRiT. Wobei: Auch mancher Schiri, der als Zuschauer das große Wort führt, sollte sich den Text mal zu Gemüte führen ...

  • Zitat von Manfred;170258


    Wobei: Auch mancher Schiri, der als Zuschauer das große Wort führt, sollte sich den Text mal zu Gemüte führen ...



    Dem kann ich nur zustimmen. Manche "Kollegen" führen sich schlimmer auf, als "normale" Zuschauer :flop: Statt die Klappe zu halten und zu wissen, dass man es als Alleinunterhalter auf dem Platz besonders schwer hat, heizen solche die Stimmung sogar noch an und rühmen sich in Fäkalsprache ...

  • Wer sich bei uns als zuschauender SR (beleidigend) daneben benimmt, bekommt ca. 6 Monate Zeit, nur Zuschauer zu sein -
    vorausgesetzt es gibt einen Sonderbericht des amtierenden SR.

    "Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit."
    (Marie von Ebner-Eschenbach, österreichische Schriftstellerin, *1830 +1916)


    "Mancher ist für die Wahrheit, solang die Wahrheit für ihn ist."
    (Charles Tschopp, schweizer Schriftsteller, *1899 +1982)

  • Woher weiß der SR auf dem Feld, ob der Zuschauer Schiri ist oder nicht? Bzw wenn er nicht mal weiß, wie ich heiße etc.

  • Ich stell mir grad die Szene vor:


    Schiri steht mittem im Spiel auf dem Platz, sieht einen Kollegen, zeigt mit dem Finger auf dich und schreit plötzlich: "DEN, DEN KENN ICH!! " :D


    Ja, klar kanns vorkommen, dass man sich mal sieht, aber wenn man öffentlich im Sinne versteht wie zu einem Bundesligaspiel oder so, wirds etwas kritischer... Obwohl wir über 78000 SR im Lande sind :)

  • glaub mir, Schiedsrichter kennen sich untereinander. Und Dich kennen jetzt schon ne ganze Menge
    Es sollte zum Ehrenkodex eines Schiedsrichters gehören sich auch als Zuschauer fair zu verhalten und gegebenfalls schlichtend auf andere Zuschauer einzuwirken. Du willst ja schließlich auch aufm Platz deine Ruhe haben oder etwa nicht. Bei den meisten Spielen im Herrenbereich sind meist mehrere Schiedsrichter in Zivil anwesend. Achte mal darauf, wie die sich während des Spiels und gerade bei Spielschluß verhalten. Da kannst du glaub ich noch was lernen.

    Ewald Lienen (Ehem. Trainer 1.FC Köln):
    Wir haben nicht das Recht, jede Entscheidung des Schiedsrichters zu kommentieren. Der lacht sich ja auch nicht tot, wenn wir einen Fehlpass spielen.

  • Ich weiß gar nicht, wie man als Schiedsrichter überhaupt auf die Idee kommt, als Zuschauer beleidigend oder störend zu werden. Schließlich müsste man doch am besten wissen, wie schwer man es als Schiedsrichter alleine zwischen zwei Fronten hat.

  • Naja auch als Schiedsrichter ist man nicht vor Emotionen sicher. Soll schon Obleute gegeben haben die das ihren Posten gekostet hat.

  • Sehr guter tekst :top:
    Darf ich den tekst vieleicht auch ins Norwegische uebersetzen so das man von dem tekst auch international profiteren kan?


    Mit freundlichen Grüssen


    Norwegischer SR

    Ich wohne seit meinem 3 Lebensjahr in Norwegen, ich bitte deswegen bei der Rechtschreibung um Nachsicht :)


    Mailand oder Madrid. Hauptsache Italien.
    (Andy Möller)

  • Huch, jetzt werden wir schon international bekannt ... ;) Wenn Du es für sinnvoll hältst: Bitte sehr.

  • Danke

    Ich wohne seit meinem 3 Lebensjahr in Norwegen, ich bitte deswegen bei der Rechtschreibung um Nachsicht :)


    Mailand oder Madrid. Hauptsache Italien.
    (Andy Möller)